«Richtige Männer spielen nicht mit Knochen!» «Ess mal was, du siehst aus wie ein Kind aus der dritten Welt!» «Sicherlich hast du eine Essstörung, so wie du aussiehst!» «So flach wie du bist, machst du Holland Konkurrenz!» «Hungerhaken!» «Strich in der Landschaft!» «Du hast ja nicht mal einen Hintern!» «Man traut sich dich gar nicht anzufassen, aus lauter Angst, dass du auseinanderbrichst!»
Ihr glaubt, Body shaming funktioniert nur bei Dicken? Tja, das stimmt leider so nicht. Vor ungefähr 15 Jahren war das, mein täglich Brot. Kein Tag verging, an dem man mich nicht aufzog. Irgendwer hatte immer an meiner Figur zu meckern. Ja, ich war dünn mit 45-50 kg auf 1.60m. Ich war jung, ich ass normal, wie das halt eben so ist. Und 50 kg auf 1.60m ist auch keine Magersucht. Wir würden auch niemanden mit 80 kg auf 1.90m hänseln, oder?
Ich litt sehr drunter, denn zu der Zeit gab es Grösse 0 noch nicht und ich sah immer aus, wie ein Kind, dass die Klamotten von der grossen Schwester auftragen musste. Sprich: Alles war mir zu gross, selbst die Grösse S. Dann fing ich an die Pille zu nehmen und es ging stetig Bergauf mit meinem Gewicht. Ich war glücklich. Endlich BH`s die passen und Hosen, die keine Falte im Bund wirft, wenn ich sie zu machte. Endlich mal einen Po in der Hose und aussehen wie eine „richtige Frau“ mit Kurven.
Immer wohl gefühlt
Ich habe mich immer wohlgefühlt, auch als die Waage 75.8 kg anzeigte. Denn die Worte und die Hänseleien von früher sassen tief. Irgendwann habe ich mich auch damit abgefunden, dass ich eben die rundlichste Freundin in unserem Freundeskreis bin. Bei den Männern kamen besonders die grossen Brüste gut an, wer schaute da noch auf den runden Bauch? Ihr wisst, was ich meine. Ich wäre auch nie böse gewesen, wenn es durch Magie weniger geworden wäre, doch ich war zu bequem und mein inneres Kind zu hungrig, um weniger zu essen. Bis diesen Sommer. Nachdem Tod meines Vaters habe ich mir viele Gedanken gemacht. Über mich und die Vergänglichkeit, wie lange ich gewisse Dinge vor mich hinschob, die nun angegangen werden müssen. Über die ganzen Partys, das ungesunde Essen und den Stress, dem ich in meinem Leben einen sehr grossen Platz eingeräumt habe.
Ich stellte fest: Je höher der Stress, desto mehr ass ich, vor allem süsses, um die Müdigkeit zu kompensieren. Aber auch aus Frust, aus Langweile. Ich ass eigentlich zu jeder sich bietenden Gelegenheit. Vor allem Kohlehydrate und Zucker, was im Körper ja mehr oder minder das gleiche ist. Woher kam das? Lange habe ich nach Antworten gesucht, wann genau ich mir diesen Mechanismus zugelegt hatte. Und ja, welch Wunder; es war in der Kindheit. Ich erinnere mich an Schokolade zur Belohnung, bei Traurigkeit, als Trost. Erinnere mich an meine Mutter, die ihre Liebe für uns Kinder durch Essen ausdrückte. Sie konnte und kannte es nicht anders. Ich übernahm das für mich, unbewusst. Mein inneres Kind war hungrig, weil es in der Kindheit oft Knappheit herrschte, nicht nur in Rumänien. Kinderarmut ist real und mitten unter uns, auch wenn es kaum zu glauben ist, auch in der Schweiz.
Nun als Erwachsene stand mir aber alles zur Verfügung. Unbegrenzte Auswahl an Schlemmereien, Schokolade, Pizza, Fastfood. Alles, immer und überall. Und ich ass und ass und ass, wie die kleine Raupe Nimmersatt, bis es anfing, mich zu nerven, dass ich irgendwie keine Kontrolle darüber hatte. Ich war dauerhungrig, nicht emotional, sondern wie ein hungriges Kind, das man im Schlaraffenland ausgesetzt hat. Es dauerte lange das einzusehen oder es gar zu bemerken. Ein Ernährungstagebuch, genau genommen eine App schuf dann Klarheit und wenn man sieht, dass man täglich (!) im Schnitt über 3000 kcal zu sich nimmt, dann ist das schon ein massiver wake up call. Wer glaubt, dass nur Alkohol und Zigaretten inklusive illegaler Substanzen süchtig machen, der hat noch nie probiert von Zucker loszukommen oder seine Essgewohnheiten umzustellen.
Wie legt man den Schalter also um?
Ich kann nur für mich sprechen: Keine Süssgetränke, kein Alkohol, kein Weissbrot, keine Pasta, kein Fastfood. Gesunde alternativen suchen. Anfangs hart, doch irgendwann gewöhnt sich der Körper daran. Ich fing auch an erstmal nur noch Teilzeit zu arbeiten, schlief mehr, verringerte den Stress. Einmal die Woche schwimmen war immer noch aktuell, ich achtete darauf, meine 15.000 Schritte am Tag zu schaffen, aber mindestens 10.000. Reflektierte mich, wenn ich wieder zu ungesundem Zeug greifen wollte. Denn ich wollte nicht noch dicker werden, 75.8 kg waren echt meine Schmerzgrenze. Wenn die Oberschenkel dauern aneinander reiben, man schneller aus der Puste kommt, einem kaum noch was passt, ist es irgendwann frustrierend. Auch wenn man sich in seinen Körper liebt, eigentlich. Manche sprachen mich direkt drauf an, ich sei doch immer so glücklich gewesen, warum ich nun eine Diät mache.
*Hier genervtes Augenrollen reindenken
Diät? Ich? Selten so gut gelacht!
Diäten sind etwas für Menschen, die schnell an Gewicht verlieren wollen. Meist haben sie danach noch mehr auf den Hüften wie vorher. Ich habe meine Ernährung umgestellt, dauerhaft, das ist keine Diät. Und auch wenn ich mich ok fand, musste ich doch an die Nebenwirkungen von Übergewicht denken. In ein paar Jahren kommt dann die Menopause, da kommen vielleicht auch noch mal 10 kg drauf und auf 1.60m kommen so 85-90 kg einfach nicht gut. Von Bluthochdruck, eventuellem Diabetes, Gelenkverschleiss und Co muss ich euch, glaube ich, nicht berichten.
Seit wann muss man sich überhaupt erklären?
Lustiger weise haben sich mehr Menschen zu Wort gemeldet und wollten mir meine Pläne madig machen, als zu der Zeit, wo ich stetig zunahm. Wirst du dick, da traut sich kaum einer was sagen. Bodyshaming ist ja soooo scheisse. Kaum nimmt man ab, fühlen sich gerade die „Richtigen“ eingeladen, ihren Senf dazuzugeben. Als ich nun aber mittlerweile 12 kg abgenommen hatte, und das erst die Halbzeit ist, machte man sich plötzlich grosse Sorgen. Vornehmlich Menschen, die deutlich Übergewicht haben. Ein Schelm wer Böses dabei denkt.
Mein Körper ist mein Tool
So wie ich meine Haarfarbe verändere, die Farbe meiner Fingernägel oder mein Make-up, habe ich und jeder andere Mensch auch das Recht unseren Körper zu verändern, auch wenn wir uns wohl fühlen und unseren Körper lieben. Ich fühle mich mittlerweile viel fitter, habe mehr Energie, schlafe besser und komme weniger schnell aus der Puste und die Reise ist noch nicht vorbei. Ich warte ausserdem schon auf die ersten Gerüchte, ich würde unter einer Essstörung leiden, lol. Ja, ich esse immer noch gern, aber einfach anders. Ich liebe meinen Körper, sogar noch mehr als vorher, weil mit ihm einfach mehr los ist, ich fitter bin, und ich kann mich auch weiterhin lieben, ohne nonstop Zucker und Kohlenhydrate in mich hineinzustopfen, Wahnsinn, oder?
Mich beschleicht einfach das Gefühl, dass gerade unter festeren Menschen ein immenser Neid herrscht, wenn andere etwas schaffen, dass man selbst nicht kann oder will: Abnehmen. Auf Twitter gab es mal einen total spannenden Thread von einer Bloggerin, die selber Übergewicht hat, er ist absolut lesenswert. Sie hat man darauf hin massiv fertig gemacht, weil sie ihre Gedanken niedergeschrieben hat. Not nice.
Denn Body positivity, so scheint es, ist nur für Übergewichtige reserviert. Oder ein Schutzschild, hinter dem sich manche dicke Menschen verstecken, oder ihre Essstörung.
Als dünner Mensch, so haben viele das Gefühl, fühlt man sich automatisch toll, sexy, begehrenswert. Dem ist ganz und gar nicht so. Also hören wir doch bitte auf, Menschen einzureden wie sie sein sollten, oder nicht sein sollten, damit sie liebenswert sind, das hat nichts mit dem Gewicht zu tun. Ausserdem: Auch dünne Frauen, sind echte Frauen! Aber was ist ein echter Mann?
Mir ist bewusst, dass dieser Beitrag vielleicht einigen sauer aufstossen wird, aber gegen Sodbrennen hilft, wie immer, Rennie. Und gesünder essen.
Wie recht du hast, liebe Paula! Von Bodyshaming kann ich auch ein Lied singen, weil ich sehr schlank bin. Und ich habe mich auch oft gefragt, wieso das bei Dicken gemein ist, aber bei mir nicht. „Du bist so hager!“ klingt wohl eher nach Sorge und „Du bist so fett!“ nach Beleidigung. Tja, ich fühlte mich trotzdem beleidigt.
Übrigens lässt auch bei schlanken Menschen mit der Zeit das Bindegewebe nach. Glaubt einem auch kein Mensch.
Allgemein sind so dumme Kommentare zu unterlassen. Und Bindegewebe hat nichts mit dem Gewicht zu tun. Auch Models haben Cellulite, nur so as Beispiel und die sind auch dünn. Lass dich nicht ärgern. <3
Ich habe jetzt lange überlegt, was ich auf diesen Beitrag antworten soll, damit es nicht ausartet, sondern so bleibt, wie ich es mir wünsche: Konstruktiv und selbstreflektiert.
Der Beitrag hat mich mit sehr gemischten Gefühlen zurückgelassen. Einerseits spricht er ein wichtiges Thema an, Bodyshaming, das, so bilde ich es mir zumindest ein, ganz besonders bei Frauen ein riesiges Thema ist. Ich bin ebenso wie du der Meinung, dass es im Kampf dagegen keine Unterschiede geben sollte, sondern dass jede Frau das Recht haben sollte, sich unkommentiert in ihrem Körper wohlzufühlen und ihn, so es nicht auf krankhafte Weise geschieht, so zu verändern wie es ihr passt.
Weiterhin denke ich, dass eine wahre körperliche Selbstliebe niemals damit einher gehen sollte, dass man Menschen mit einem anderen Aussehen als dem eigenen abwertet, und ganz besonders bezieht sich das auf das Körpergewicht. Insofern sind die Kommentare, die du am Anfang des Beitrags gesammelt hast, unterste Schublade. Auch hat meiner Ansicht nach jeder Mensch das Recht, unkommentiert durchs Leben zu gehen.
Ich sehe die Bodypositivity – Bewegung mittlerweile durchaus kritisch, so wie ich alles Extreme kritisch sehe. Ich habe auch von Erfahrungen gelesen, wo Menschen, die deutlich übergewichtiger waren als du, dafür abgewertet wurden, dass sie abnehmen wollten. Dies sei ja mit Selbstakzeptanz unvereinbar. Nein, stimmt so nicht. Ich denke, dass extremes Denken blind macht für Zwischentöne und dass eine Körperform, die auf krankhafte Weise (hier sind ausdrücklich die Menschen ausgenommen, die körperlich gesund sind bzw so gebaut) extrem ist, sei es adipös oder massiv untergewichtig, niemals gesund sein kann.
So weit, denke ich, stimmen wir überein.
Leider, finde ich, siehst du Übergewicht selbst extrem eindimensional. Da wäre zunächst einmal die Tatsache, dass selbst krankhaft bedingte Adipositas ein Symptom ist und zwar ganz sicher Gelenkverschleiß, aber noch lange keinen Bluthochdruck oder andere metabolische Erkrankungen zur Folge hat.
Ich bin durch eine Essstörung extrem adipös und es ist schon seltsam, dass man mir in all den Jahren immer wieder mit höchst besorgtem Blick Krankheiten unterstellen wollte, die ich einfach nicht habe. Das reicht von Diabetes bis zu Bluthochdruck. Aber es darf augenscheinlich einfach nicht sein, dass eine adipöse Frau körperlich weitestgehend gesund ist.
Übergewicht ist, und das hören viele nicht gerne, ein Symptom, hinter dem verschiedene Ursachen stecken können. Von einer Eßstörung bis hin zu massiver Zunahme auf Grund von Medikamenten wie Antidepressiva über ein Lymphödem….und noch einiges mehr. Und nicht immer ist die Lösung abzunehmen, wie auch immer.
Mir persönlich war es lange Zeit einfach nicht möglich, meine Körperform in meinem Sinne zu verändern. Und das liegt nicht daran, dass ich zu bequem dafür war, sondern dass ich schlicht keinen anderen Umgang mit meinen Gefühlen gefunden habe und mir erst in letzter Zeit bewusst geworden ist, was ich eigentlich wirklich brauche und was hinter meinem Übergewicht steckt. Warum ich so ticke wie ich ticke und warum ich selbst nach jahrelanger Therapie nicht mit dem emotionalen Überessen aufhören konnte.
Seitdem geht es ganz langsam runter, noch sieht man zum Glück nichts davon. Zum Glück, weil ich es hasse wie die Pest, für Abnahmen gelobt zu werden und dafür auch noch dankbar sein zu sollen. Wenn es aber erst mal so weit ist, werde ich mich diesem Problem stellen müssen. Womit wir wieder bei dem Recht auf Unkommentiertheit wären.
Ich denke, wie die übergewichtigen Personen in deinem Umfeld mit deiner Gewichtsabnahme umgegangen sind, ist nicht fair.
Deine Seitenhiebe und Paschalisierungen hier aber ebenso wenig. Und es bringt überhaupt nichts, außer, dass ein eigentlich guter Beitrag sehr provokativ und stellenweise abwertend wird.
Vielleicht bist du ein bisschen Wut losgeworden, aber das ist alles.
Zum Abschluss noch eines : Jeder Mensch ist individuell, und was für einen Menschen gesunde Ernährung ist, muss es für den anderen noch lange nicht sein. Es kann (neben einer Ernährungsumstellung) auch ausgesprochen gesund sein, sich von dem mehr und mehr zur Religion verkommenen Ernährungsthema so weit es geht zu distanzieren und einfach ein gutes Essen zu genießen. Schüttet gleich weniger Cortisol aus, ein Stresshormon, das übrigens dick macht.
In diesem Sinne, frohe Weihnachten.
Hi, danke für deinen Kommentar!
Leider hast du die Kernaussage des Beitrages und den Sinn des Blogs ( Was man so nicht sagen darf) nicht erfasst.Ich spreche hier von meinem persönlichen Übergewicht, das beinhaltet keine Medikamente, Krankheiten oder sonst was und ist auch nicht das Thema des Artikels. Im laufe der Zeit habe ich gelernt, dass Menschen sich nur rechtfertigen hier, wenn sie sich persönlich von irgendwas getriggert und angesprochen fühlen. Doch grundsätzlich ist es hier so gehalten: So lange dein Name oder dein Foto nicht erwähnt / gezeigt werden, ist es nie persönlich. Ich schätze die Mühe, die du dir gemacht hast diesen langen Kommentar zu erfassen, doch wie Beiträge bei den Lesern ankommen, ist einzig und alleine ihr Problem. Man kann es nie allen zu 100% recht machen oder den Geschmack von jedem treffen. Das ist auch nicht meine Aufgabe.
Wie der Name des Blogs – so auch der Ton in den Beiträgen, sonst könnte es ein Brigitte Artikel sein 😉
Ich wünsche dir ein besinnliches und frohes Fest!
Hallo Paula,
ich bin selber zwar übergewichtig (nicht nur ein bisschen 😉 ) aber ich finde das sehr gut das du auch mal „die andere Seite“ ansprichst. So empfinde ich das nämlich auch wenn mir ein Mann ein Kompliment a´la „Echte Frauen wie du haben sowieso Kurven und keine Knochen“. Bei mir kommt dann automatisch die Frage: „Ach und dünne Frauen sind also keine echten Frauen?“
Auch sonst merkt man diese „Grundeinstellung“ häufig in Foren und Gruppen für dicke Menschen. Auch wenn man sich dadurch vielleicht besser fühlt, ja vielleicht sogar erhaben, ist es genauso abwertend und falsch wie „fette Kuh“.
Jede Frau hat ihren Körper mit dem ganz alleine SIE klarkommen muss.
Grüße, Jessica
Hallo Jessica
Danke für deine Offenheit. Ja, Frau ist Frau, egal ob 45kg oder 120kg. Männer hingegen rasten ja schon aus, wenn man ein paar cm unterschlägt. 😉 So fragil das männliche Ego. Aber wir Frauen müssen uns so einen Scheiss bieten lassen.